Sievert Karsten Frank

 

Das blaugestreifte Hemd

Als Jürgen am Nachmittag aus dem Büro gekommen war, hatten sie am kleinen runden Kaffeetisch zusammengesessen. Wie jeden Nachmittag. Vor Jahren hatten sie dieses kleine Tischchen gefunden und nach ein paar Stühlen gesucht, die dazu passten. Seitdem saßen sie nachmittags dort, sahen aus dem Wohnzimmerfenster in den kleinen Garten, den sie akkurat in Ordnung hielt, und tranken Kaffee. Das war eine geheiligte Stunde, sozusagen. Ihre halbwüchsigen Kinder wussten, dass sie in dieser Zeit nicht gestört werden wollten und hielten sich daran. Meistens waren sie ja um die Zeit auch gar nicht mehr im Haus.
"Heute Abend ist Vorstandssitzung." Das wusste Birgit. "Der Kreisvorsitzende kommt, der Landesvorsitzende kommt."
"Ich habe dir schon ein weißes Hemd gebügelt."
"Ich will heute das blaugestreifte anziehen und dazu die dunkelblaue Krawatte."
"Das blaugestreifte ist noch nicht gebügelt. Und deine blaue, seidene Osterkrawatte ist in der Reinigung."
"Das könntest du doch gerade noch bügeln. Das ist doch kein Aufwand. Und welche Osterkrawatte?"
"Na die, auf der du letztlich mit den Resten von gekleckertem Ei nach Hause gekommen bist."
Jürgen hatte zwar das Ei sehr sorgfältig abgewischt und war extra in die Toilette gegangen, um viel frisches Wasser zu haben, aber sie hatte es trotzdem sofort bemerkt. Er erinnerte sich auch, dass sie etwas von Reinigung gesagt hatte. Trotzdem machte es ihn wütend. "Dauert das denn so lange?" Es lag ein gewisser Ärger in seiner Stimme, den er allerdings selbst nicht bemerkte.
Ich habe sie erst am Montag hingebracht. Freitag komme ich dort wieder vorbei. Dann hole ich sie ab."
"Könntest du nicht anrufen, ob sie fertig ist?"
"Das kannst du auch selbst tun. Aber zu dem weißen Hemd passt auch jede andere."
Mit einer gewissen Schärfe bestimmte er: "Ich werde das blaugestreifte Hemd anziehen, und ich bitte dich, es noch zu bügeln." Er mochte keine Widersprüche. Das Bisschen konnte er wohl verlangen. Das konnte sie ja wohl noch für ihn tun. Schließlich war sie für alles im Hause verantwortlich.
Sie sagte gar nichts, sondern kramte nur den Zettel von der Reinigung heraus. Er rief an. Ja, der Schlips war schon fertig. Er hatte noch eine halbe Stunde. Das würde er gerade noch schaffen. Selbst mit dem Hund an der Leine.
Leider hatte er keine Hundetüte mitgenommen, die Rolle war in der Freizeitjacke geblieben und Jürgen hatte der Einfachheit halber seine Bürojacke wieder angezogen. Dadurch geriet er in eine sehr ernste Diskussion mit einem Passanten, die ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm, obwohl er schließlich ein Papiertaschentuch geopfert hatte. Auch die Begegnung mit einem Stadtverordneten, mit dem er verschiedentlich wegen des Bolzplatzes bei ihnen an der Ecke gesprochen hatte, kostete ihn wertvolle Minuten. Jedenfalls war das Geschäft bereits geschlossen. Die dunkelblaue Krawatte konnte er heute Abend nicht tragen.
Verärgert ging er wieder nach Hause, riss das Tier hinter sich her und ließ dem Köter auch keine Zeit für neue Duftmarken. Seine Stimmung war noch nicht besser geworden, als er den Hund ins Haus zog und die Tür ziemlich heftig hinter sich schloss. Natürlich war es laut. Es machte nichts, wenn sie alle erfuhren, dass seine Stimmung am Boden war. Diese Zeit hatte er völlig umsonst verschwendet. Der Streit mit dem Passanten wegen des wirklich nur kleinen Haufens, der blöde Mensch wegen des Bolzplatzes. Und Birgit hatte das weiße Hemd herausgelegt und dazu einen passenden Schlips. Er hatte doch extra das blaugestreifte Hemd geordert. Wieso denn das nun?
"Wo ist Mama?"
"Weiß ich nicht." Der Siebzehnjährige kaute an einem Brot. "Was heißt: Weiß ich nicht?" Die Jungs wurden auch immer frecher.
"Weiß ich nicht. Mama hatte eine Reisetasche, und als sie rausging, sagte sie: `Heute macht ihr euch mal selbst ein Brot.` Das habe ich gerade getan." Er kaute weiter.
"Welch eine Reisetasche?"
"Na, ihre Reisetasche." Rolf fand das anscheinend ganz natürlich. "Die mit den roten Aufschlägen. Nimmt sie doch sonst auch." Er kaute immer noch. Dabei hatte er ihm doch beigebracht, dass man mit vollem Mund nicht spricht. Heute lief aber wirklich alles schief. "Und wo ist sie hingegangen?"
"Sagte ich schon. Weiß ich nicht. Außerdem ist sie gefahren."
"Gefahren? Wieso?"
"Ja. Es stand ein Taxi vor der Tür."